Was heißt „Selbstbestimmt" Leben?
Immer wieder sagen wir, dass wir Selbstbestimmt leben wollen. Aber was heißt das eigentlich – „Selbstbestimmt Leben“?
Independent-Living
Übersetzt man den Begriff „Independent-Living“ aus dem Englischen, so bedeutet dies „unabhängiges“, „selbstständiges“ oder „autonomes“ Leben. Judith Heuman vom World Institute of Disability, eine wichtige und aktive Person in der US-amerikanischen Behindertenbewegung, sieht in einem Selbstbestimmten Leben jedoch keine aktiven Tätigkeiten, die ausgeführt werden müssen, sondern einen Entscheidungsprozess. So definiert sie Independent-Living wie folgt:
„To us, independence does not mean doing things physically alone. It means being able to make Independent decisions. It is a mind process not contingent upon a normal body“.
[Für uns bedeutet Unabhängigkeit nicht, dass wir Dinge physisch allein tun. Es bedeutet, in der Lage zu sein, unabhängige Entscheidungen zu treffen. Es ist ein geistiger Prozess, der unabhängig vom Körper ist].
Independent-Living meint also, dass Menschen mit Behinderungen persönliche und wirtschaftliche Entscheidungen eigenständig treffen. Die Grundlage dieser Annahme ist, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte, Privilegien und die gleiche Verantwortung haben, wie alle Menschen in der Gesellschaft.
Selbstbestimmung als Gegenmodell zur Fremdbestimmung
Selbstbestimmung wird auch häufig als Synonym für „Autonomie“ und „Eigenständigkeit“ verwendet. In der Behindertenhilfe wird diese Definition jedoch angegriffen, da man unter dem Begriff der Autonomie eine Selbstständigkeit, bzw. ein Selbermachen versteht. Dieses findet bei Menschen mit Behinderungen jedoch keine Umsetzung.
Aus diesem Grund wird unter Selbstbestimmung jede Handlung verstanden, die Menschen mit und ohne Persönliche Assistenz sowie ohne Fremdbestimmung selbst festlegen.
Darin steckt auch der wichtige Begriff der Fremdbestimmung. Fremdbestimmung bedeutet, dass Institutionen und professionelle Helfende für Menschen mit Behinderungen Entscheidungen treffen. Die Betroffenen werden dadurch jedoch in ihrem eigenen Entscheidungsprozess eingeengt.
Selbstbestimmung bildet letztendlich also ein Gegenmodell zur Fremdbestimmung. Es richtet sich gegen das traditionelle, medizinische und defizitorientierte Rehabilitationswesen.
Freie Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten
Dieser Blick auf Selbstbestimmung bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen zugesprochen wird, ihr eigenes Leben nach freiem Willen und unabhängig zu gestalten. Kurzum: Sie haben freie Wahlmöglichkeiten und können selbst über ihr Leben entscheiden.
Dieser Grundsatz ist auch in der UN-Behindertenrechtskonvention verankert. In Artikel 19 heißt es:
„Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, […]“.
Ein Beispiel, wie diese Form des Selbstbestimmten Lebens umgesetzt werden kann, ist das Modell der Persönlichen Assistenz, welches sich als Gegenmodell zur herkömmlichen Betreuungsform entwickelt hat und aus dem Konzepts der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung heraus entstanden ist.
Die Persönliche Assistenz setzt Selbstbestimmung nämlich insofern um, dass Menschen mit Behinderungen ihre benötigten Hilfen unabhängig von Institutionen eigenverantwortlich organisieren können – ohne dabei auf fremdbestimmte Strukturen angewiesen zu sein.