Geschäftsführerin des ZSL Nord, Janine Kolbig, hält eine Rede. Daneben Sprachdolmetscherinnen, die übersetzen und eine ZSL Fahne.

Selbstbestimmt-Leben-Bewegung in Deutschland

In Deutschland entwickelte sich wie in den USA eine Bewegung von Menschen mit Behinderungen, die zum Ziel hatte, Selbstbestimmt zu leben: Aus ihr ist das ZSL Nord entstanden.

Wie in den USA gab es auch in Deutschland viele Widerstände zu brechen. Doch die Geschichte zeigt: Der Kampf für mehr Selbstbestimmung hat sich gelohnt.

Zeit des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit: Schrecken und Neubeginn​

Zur Zeit des Nationalsozialismus wurden zahlreiche Menschen mit Behinderungen Opfer der Euthanasie. Mehr als 70.000 Menschen mit Behinderungen wurden zwischen 1940 und 1941 getötet. Diese Menschen wurden als „geisteskrank“ oder „lebensunwert“ bezeichnet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten sich die ersten Organisationen für Kriegsbeschädigte und deren Hinterbleibenden. Für die Menschen, die eine Behinderung nicht in Folge des Krieges bekommen haben, gab es zunächst jedoch keine öffentliche Hilfe.

Eltern von Menschen mit Behinderungen gründeten 1958 schließlich die Bundesvereinigung Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind sowie den Verband Deutscher Vereine zur Förderung spastisch gelähmter Kinder. Das Ziel der Elternvereinigungen war es, Kinder mit Behinderungen zu fördern und die Familien zu entlasten. In der Folge wurden auch die ersten Sonderschulen und Sonderkindergärten errichtet. Zudem entstanden die ersten Werkstätten und Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen.

Aufstand in Deutschland: Club 68, Krüppelgruppe und mehr Widerstandsgruppen

Bis Mitte der 1970er Jahre gab es eine Vielzahl an Sondereinrichtungen, in denen Menschen mit Behinderungen untergebracht waren: Fachleute waren der Meinung zu wissen, wie und wo Menschen mit Behinderungen am besten leben sollten. Das änderte sich im Zuge der Studierenden und Frauenbewegung in Deutschland, durch die sich auch Menschen mit Behinderungen motiviert fühlten, für ihre Rechte und Freiräume zu kämpfen.

1968 gründeten Menschen mit Behinderungen den Club 68 – in diesem sollten gemeinsame Freizeitaktivitäten mit jungen behinderten und nichtbehinderten Menschen umgesetzt werden, um Vorurteile abzubauen. Es gründeten sich schließlich weitere Clubs und die Arbeit weitete sich auch auf die Kommunalpolitik aus, um alltägliche Barrieren abzubauen.

In der Folge gab es zahlreiche weitere Aktionen von Menschen mit Behinderungen. Eine Gruppe um Gusti Steiner, Mitbegründer der Behindertenbewegung sowie dem Publizisten Ernst Klee, startete beispielsweise zahlreiche Protestaktionen, um auf die Barrieren in der Umwelt aufmerksam zu machen. Sie blockierten etwa Straßenbahnen, bauten Rampen in nicht-barrierefreie Gebäude oder verliehen die Goldene Krücke, einen Negativ-Preis für Menschen, die in der Behindertenarbeit tätig waren.

Zwischen 1978 und 1981 gründete sich die Vereinigung Integrations-Förderung e.V. (VIF) – der erste selbst organisierte ambulante Hilfsdienst für Menschen mit Behinderungen. Der Verein ermöglichte Betroffenen, ein Leben außerhalb von Sondereinrichtungen zu führen. Aus dem Hilfsdienst entwickelte sich später das immer häufiger vorkommende Arbeitgebermodell, bei dem Menschen mit Behinderungen Assistenzleistungen für ein Selbstbestimmtes Leben in einer eigenen Wohnung bereitgestellt werden.

Der Publizist Franz Christoph und der ehemalige Politiker Horst Frehe gründeten 1978 in Bremen die Krüppelgruppe. Der Name war bewusst provokant gewählt, um die Gesellschaft auf die Distanz zwischen Menschen mit ohne Behinderung hinzuweisen, aber auch, um das damalige Verständnis von Behinderungen widerzuspiegeln. Die Gruppe lehnte jegliche Arbeit mit Nichtbehinderten ab, um das bereits vorhandene Machtgefälle zwischen Menschen mit und ohne Behinderung zu vermeiden. Von 1979 bis 1985 brachte sie die Krüppelzeitung – Zeitung von Krüppeln für Krüppel heraus.

All dieses Engagement war wegweisend, um die Situation von Menschen mit Behinderungen zu verändern.

Das UNO-Jahr und die Folgen

In den 1980er Jahren wuchs der Widerstand von Menschen mit Behinderungen, als eine Frau vor dem Frankfurter Landesgericht klagte, weil sie im Urlaub den Anblick eines behinderten Menschen „erdulden“ musste und dafür recht bekam. Das Urteil sorgte für heftige Proteste mit zahlreichen Demonstrationen, unter anderem mit 5000 Menschen in Frankfurt am Main. 

Gestärkt durch die Proteste formierte sich die Aktionsgruppe gegen das UNO-Jahr. Die Gruppe störte etliche Veranstaltungen anlässlich des Jahr der Behinderten der UNO 1981, um die Öffentlichkeit auf die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen aufmerksam zu machen. Unter anderem torpedierte die Gruppe die Eröffnungsrede des damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens, der seine Rede daraufhin in einem Nebenraum halten musste.

In Folge des UNO-Jahrs entwickelte sich die Behindertenbewegung fortan in der ganzen Bundesrepublik. Es entstanden weitere ambulante Dienste sowie das erste Selbstbestimmt-Leben-Zentrum in Bremen. Weitere folgten in Hamburg und Köln. Diese Zentren orientierten sich an dem Center for Independent-Living in den USA. 

1990 wurde der Bundesverband der Zentren für Selbstbestimmtes Leben – Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL e.V.) gegründet. In diesem Dachverband solidarisierten sich fortan alle Zentren für Selbstbestimmtes Leben (ZSL) und vertraten die Grundsätze eines Selbstbestimmten Lebens für Menschen mit Behinderungen.

Die ISL e.V. initiierte zahlreiche Aktionen, unter anderem organisierte sie den europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, der noch heute zur Aufklärung beiträgt und an dem jährlich protestiert wird. 

Anpassung des Grundgesetzes, Schutz von Menschen mit Behinderungen und UN-Behindertenrechtskonventionen

Die Behindertenbewegung erreichte 1994 einen Meilenstein, als sie Menschen aus der Politik davon überzeugte, einen Diskriminierungsschutz für Menschen mit Behinderungen im Grundgesetz (GG) zu verankern. Seitdem heißt es in Artikel 3 Abs. 3 des GG: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“.

2002 folgte mit dem Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) der nächste Meilenstein: In dem Gesetz wurde der Bund zur Barrierefreiheit von Gebäuden verpflichtet sowie zur Anerkennung der deutschen Gebärdensprache. 

Da dieses Gesetz nur die Bundesebene betraf, wurden in einigen Bundesländern kurz darauf Gleichstellunggesetze entwickelt, unter anderem in Schleswig-Holstein. 2006 trat schließlich das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Kraft, welches Menschen mit Behinderungen vor Diskriminierung und Benachteiligung in Berufen sowie im Zivilrechtsverkehr schützt.

Der bis dato größte Meilenstein in der Behindertenbewegung folgte kurz darauf bei der UN-Generalversammlung 2006. Mit der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) definierten die Verantwortlichen Behinderung erstmals nicht als ein medizinisches oder individuelles Problem, sondern als Wechselwirkung zwischen individuellen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Barrieren.

Diese Barrieren sind demnach ein Hindernis für Menschen mit Behinderungen für eine gleichberechtigte Partizipation in der Gesellschaft. Das internationale Abkommen trat 2009 ohne jedwede Einschränkungen in Kraft. Die Umsetzung erfolgt seitdem in vielen Bereichen des täglichen Lebens von Menschen mit Behinderungen. 

Bundesteilhabegesetz und die EUTB

Eine letzte wichtige Entwicklung war schließlich das Bundesteilhabegesetz von 2016. Das Ziel des Gesetzes war es, die Partizipation und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Im Vorfeld gab es von der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung viel Protest, da einige Neureglungen die Selbstbestimmung und Partizipation einschränkten. 

Mit dem Bundesteilhabegesetz wurden schließlich bundesweit die Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungsstellen (EUTB) eingeführt. Diese ermöglichen die flächendeckende Methode des Peer Counseling, bei der Menschen mit Behinderungen andere Menschen mit Behinderungen beraten. Auch bei uns, dem ZSL Nord, bieten wir EUTB-Beratung an

Heutzutage gibt es in der Bundesrepublik viele Organisationen und aktive Menschen mit Behinderungen, die sich tagtäglich in der Behindertenpolitik einsetzen. Denn noch immer kämpfen viele Menschen mit Behinderungen gegen Diskriminierung, für ihre Rechte und für Partizipation. Unser Weg ist trotz der positiven Entwicklungen in der Vergangenheit also noch lange nicht zu ende.

Teilen

Nach oben scrollen
Skip to content